Das Original stammt, glaube ich, aus der FAZ ca. 1995. An Aktualität hat es nichts verloren.
Früher haben sich die Menschen aus Mangel falsch ernährt. Heute tun sie es aus Gier auf Dumpingpreise im Supermarkt!
Eine Umfrage hat ergeben, dass die Deutschen kein Fleisch mehr mögen. Die Alarmmeldungen aus England und die Skandale in Tiermastbetrieben verstärken ihre permanente Angst vor Tod und Verderbnis. Es ist viel Hysterie dabei im Spiel, aber es hat auch sein Gutes. Denn nur wenn weniger Fleisch verzehrt wird, kann sich dessen Qualität bessern. Allein darum geht es.
Selbstverständlich wollen alle Verbraucher besseres Fleisch. Sie wollen auch bessere Autos, bessere Kleidung und bessere Freizeit. Doch während sie für die drei letzten Dinge bereitwillig die verlangten Preise bezahlen, darf besseres Fleisch nicht teurer sein.
Deshalb haben Ökobauern es schwer, Käufer für ihre Produkte zu finden, hochwertige Nahrungsmittel sind bei uns Ladenhüter. Der billige Schund dagegen wird tonnenweise nach Hause gekarrt, hemmungslos ernähren sich Familien von Produkten, die eigentlich apothekenpflichtig sein müssten.
Überdüngte, fade Gemüse aus charakterlosen Neuzüchtungen und Fertigprodukte mit dem EU-Einheitsgeschmack finden reissenden Absatz. Weil sie billig sind.
Die Amerikanisierung unserer Essgewohnheiten (schnell, bunt und billig) hat in diesem Jahrhundert ebenso schwerwiegende Folgen gehabt wie der Massentourismus. Beide beeinträchtigen unsere Lebensqualität erheblich. Und beide werden vom Konsumenten widerspruchslos akzeptiert, wenn nicht gar gefordert.
Schon in der nächsten Generation wird es niemanden mehr geben, der sich glücklich daran erinnert, wie seine Mutter gekocht hat. Weil Mütter nicht mehr kochen. Abgefüllte, vakuumierte, tiefgefrorene und gefriergetrocknete Fertiggerichte hinterlassen keine Spuren in den Kindheitserinnerungen. Darin wird alles fehlen, was früher aufs engste mit dem Familienleben verbunden war. All die selbstgerührten Kuchen, der Duft von Kohl, Zimt, Vanille, Thymian: Mutters spezielle Art, Pfannkuchen zu backen. Ihr Hausrezept für Rindsgulasch – all das wird nicht mehr existieren in der Welt von morgen.
Daran änderte sich auch nichts, wenn wir alle Vegetarier würden.
Die Nahrungsmittelindustrie ist flexibel. In kürzester Zeit hätten wir alle Pizzas, alle Klopse, alle Suppen und Ragouts, von denen die Mehrheit sich ernährt, wieder zur Verfügung. Nur das dann auf der Packung stünde „Auf rein pflanzlicher Basis“. Es ist nicht so wichtig, ob ein Steak aus Melasse hergestellt oder aus der Rinderlende geschnitten wurde. Wahrscheinlich schmeckt eine Sojawurst nicht anders als die vom Schwein. Entscheidend für das Niveau unseres Essens ist allein die Möglichkeit der Wahl. Solange sie existiert ist alles Jammern lächerlich und feige.
Sie sperren Hühner in KZ-ähnliche Käfige? Sie pferchen Schweine in Betonwannen? Manipulieren das Futter? Verwerten Folikeleier für Nudeln? Feine Herrschaften, in der Tat.
Aber niemand zwingt uns, ihren Dreck zu kaufen. Die Supermärkte sind zwar gigantisch, aber es gibt Alternativen. O ja, es macht Mühe, die bessere Qualität zu finden. Und noch mehr Mühe macht es, aus guten und frischen Produkten selbst etwas zu kochen.
Es ist die gleiche Mühe, die jemand auf sich nimmt, der am Sonntag eine Dreiviertelstunde mit dem Auto fährt, um in einem Wirtshausgarten die gleichen Fertigprodukte aus dem Mikrowellenherd zu essen, welche er in der Woche auch zu Hause isst.
Es ist die Mühe, die viele auf sich nehmen, um auf Flohmärkten herum zu stöbern oder neue Pisten für ihr Mountainbike zu entdecken. Doch während dafür Zeit und Geld investiert werden, verlangt der Normalverbraucher, sein Steak, ein Billigsteak, jederzeit gleich im Laden an der Ecke kaufen zu können.
Ist das normal? Es ist schizophren.
Der Normalverbraucher ist eine Schimäre, ihn gibt es nicht. Was er für sein Recht auf billiges Fleisch hält, ist die Ursache für Rinderwahn und Schweinepest; und mit seiner Akzeptanz des bunt verpackten essbaren Sondermülls hat er das Zeitalter des Verfallsdatums geschaffen.
Früher haben die Menschen sich aus Mangel falsch ernährt. Heute tun sie es aus Gier.
Immer auf der Suche nach dem Sonderangebot, beklagen die Schnäppchenjäger die Folgen ihres falschen Konsums.
Die Zahl der aufgeklärten Konsumenten ist bedauerlicher Weise zu gering, als dass sie eine Wende zur besseren Qualität herbeiführen könnten, aber sie nimmt zu. Auch wenn ihr Motiv nicht das Bedürfnis nach der besseren Qualität ist, sondern die Angst vor der schlechten, so bringen sie doch Bewegung in die Produktion unserer Lebensmittel.
Sogar ein kleiner Boykott hat manchmal große Folgen. Denn die Produzenten haben eine empfindsame Stelle, wo sie Schmerz verspüren: zurückgehender Umsatz. Deshalb ist es gut und richtig, wenn Deutschlands Esser dem Steak untreu werden.